Familienrechtliche Verfahren zum Kinderschutz: Eine Gerichtsaktenanalyse zur Rolle von elterlicher psychischer Gesundheit, Alleinerziehung und des Kindeswillens im Verfahrensverlauf

Die Anzahl familiengerichtlicher Verfahren und Gefährdungseinschätzungen zum Kindeswohl verzeichnen einen kontinuierlichen Anstieg (Statistisches Bundesamt, 2019a). Forschung in diesem Kontext, insbesondere unter Verwendung von Daten aus realen Verfahren zur Kindeswohlgefährdung, ist dagegen immer n...

Full description

Bibliographic Details
Main Author: Kratky, Nicole
Format: Others
Language:de
Published: 2020
Online Access:https://tuprints.ulb.tu-darmstadt.de/14009/1/KumulativeDissertation_Kratky_final.pdf
Kratky, Nicole <http://tuprints.ulb.tu-darmstadt.de/view/person/Kratky=3ANicole=3A=3A.html> (2020): Familienrechtliche Verfahren zum Kinderschutz: Eine Gerichtsaktenanalyse zur Rolle von elterlicher psychischer Gesundheit, Alleinerziehung und des Kindeswillens im Verfahrensverlauf.Darmstadt, Technische Universität, DOI: 10.25534/tuprints-00014009 <https://doi.org/10.25534/tuprints-00014009>, [Ph.D. Thesis]
Description
Summary:Die Anzahl familiengerichtlicher Verfahren und Gefährdungseinschätzungen zum Kindeswohl verzeichnen einen kontinuierlichen Anstieg (Statistisches Bundesamt, 2019a). Forschung in diesem Kontext, insbesondere unter Verwendung von Daten aus realen Verfahren zur Kindeswohlgefährdung, ist dagegen immer noch eher selten. Psychische Erkrankungen der Eltern als auch der Aspekt der Alleinerziehung konnten als Risikofaktoren für Kindeswohlgefährdung, die Anrufung des Familiengerichts und für Sorgerechtsentzüge identifiziert werden (u.a. Bae, Solomon, & Gelles, 2007; McConnell, Feldman, Aunos, & Prasad, 2011; Simon & Brooks, 2017; Stith et al., 2009). Dabei lag der Forschungsschwerpunkt bislang vor allem auf den Kindesmüttern. Forschungsbefunde zur Rolle der Kindesvätern sind kaum vorhanden (Black, Heyman, & Smith Slep, 2001; Kane & Garber, 2004; Stover, Urdahl, & Easton, 2012). Auch über den Einbezug des Kindeswillens in die Gerichtsverfahren ist wenig bekannt. Die Aussagen der Kinder im Rahmen ihrer Anhörungen oder wie sich das Kindesalter auf den Einbezug des Kindeswillens auswirkt, wurden bislang nicht systematisch untersucht. Dabei kann der Kindeswille einerseits für das kindliche Wohlbefinden andererseits für den Erfolg der Verfahrensausgänge als Schutzfaktor angesehen werden (Bessell, 2011; Cashmore, 2011; McLeod, 2007; Vis, Strandbu, Holtan, & Thomas, 2011). Diese Forschungslücken adressiert die vorliegende Dissertation. Sie setzt sich dabei aus drei Forschungsartikeln und einer Synopsis zusammen. Letztere ordnet die Forschungsartikel in einen Gesamtzusammenhang ein. Der Dissertation zu Grunde liegt die Durchführung einer Gerichtsaktenanalyse von 220 Verfahren zur Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB. Hierzu wurde ein spezifisches Kategoriensystem entwickelt, validiert und von Beurteilerinnen angewandt. Die Ergebnisse zur Inter-Rater-Reliabilität verwiesen auf mehrheitlich gute bis sehr gute Werte. Bei der Testung der Forschungshypothesen wurde die hierarchische Datenstruktur berücksichtigt. Die elterliche psychische Gesundheit, modelliert als ein Funktionsniveau im Alltag, zeigte sich als signifikanter Prädiktor für die Intensität des Sorgerechtsentzugs. Je stärker die Beeinträchtigungen von Kindesmutter oder Kindesvater, desto stärker fiel der Eingriff in die elterliche Sorge aus. Mediationsanalysen zeigten zudem einen signifikanten indirekten Effekt vom mütterlichen Funktionsniveau über Kindesmisshandlung auf den richterlichen Beschluss. Der Aspekt der Alleinerziehung der Kindesmütter moderierte diesen Effekt. Die untersuchten Verfahren umfassten insgesamt 343 betroffene Kinder. Von diesen Kindern wurden 182 im Verfahrensverlauf nach ihrem Willen befragt. Dabei zeigte sich das Kindesalter als signifikant positiver Prädiktor für eine Kindesanhörung, als auch für eine Entsprechung des Wunsches mit dem richterlichen Beschluss. Auf häufigsten äußerten sich die Kinder dazu wo sie sich ihren Lebensmittelpunkt wünschten. Auch berichteten Kinder über Wünsche nach Kontakten und wer für sie relevante Entscheidungen treffen solle. Die Kindeseltern wurden durch die Kinder am häufigsten genannt. Aussagen zu anderen Bezugspersonen, die Ablehnung von Personen bis hin zum Wunsch nach Herausnahme aus dem elterlichen Haushalt zeigten sich jedoch ebenso. Bei einem Großteil der Kinder bezog sich der Wunsch nach dem Lebensmittelpunkt auf eine Person, von der zuvor kindeswohlgefährdendes Verhalten ausgegangen war. In diesen Fällen folgten die Familienrichterinnen und Familienrichter signifikant seltener dem Kindeswillen in ihren Entscheidungen. Ihrer Rolle entsprechend stellten sie somit das Kindeswohl über den Kindeswillen. Die vorliegende Dissertation konnte frühere Befunde an einer Stichprobe realer familienrechtlicher Verfahren replizieren und durch die Auswahl des methodischen Vorgehens zusätzlich erweitern. Ergänzend wurde erstmals der Kindeswille als Element der Verfahren detailliert fokussiert. Zwar wurde eine vergleichsweise große Stichprobe untersucht, differenzierte Analysen zum Beispiel zu den Kindesvätern waren auf Grund der kleinen Teilstichprobe alleinerziehender Väter jedoch nicht möglich. Dennoch verweisen die auf die Wichtigkeit des Vaters für Forschung und Praxis. Weiterführende Forschung sollte hier ebenso ansetzen, wie auch an der Differenzierung der untersuchten Konstrukte unter Hinzunahme weiterer Risiko- und Schutzfaktoren. Dies könnte zum Beispiel eine elterliche Behandlungsbereitschaft im Falle psychischer Erkrankungen oder der Blick auf das Subsystem der Geschwister sein. Zudem wäre die methodische Modellierung der Familienrichterinnen und Familienrichter als weitere Ebene von Interesse. Zusammenfassend liefert diese Arbeit einen wichtigen Beitrag dazu, innerfamiliäre Prozesse aber auch die juristischen Prozesse im Kontext von Kindeswohlgefährdung besser zu verstehen. Dies bietet, der obersten Maxime des Kinderschutzes folgend, die Möglichkeit, Interventionen oder Herangehensweisen der Verfahrensbeteiligten je nach Bedarf der Familie zu implementieren und auszugestalten.